Vor bald 100 Jahren wurden zwei Kinder von einer alleinerziehenden Mutter in ein Kinderheim gesteckt. Das Haus wurde von katholischen Nonnen geführt, deren Muttersprache das Hochdeutsche war. Die meisten Kinder dieses Heimes waren alle bereits im Säuglingsalter in das Heim gesteckt worden. Sie wuchsen dort auf, ohne von der Welt mehr kennen zu lernen als die Räume des Heimes und den katholischen Glauben.
I
Bis die Verwandtschaft ihres Vaters, die in Lengnau ansässig war, energisch forderte, die zwei Kinder müssten katholisch erzogen werden. Der Vater, von der Mutter geschieden, arbeitete auf einem deutschen Fischdampfer, er war für Schweizer Behörden also nicht greifbar um Unterhaltsbeiträge einzufordern.
Die älteren Knaben im Heim betrachteten Frido sogleich als Respektsperson. Denn wöchentlich verschwand einer dieser älteren Buben. Er lief davon, suchte das Weite und wurde von der Polizei spätestens nach einigen Tagen wieder zurück gebracht ins Heim. Dort in den Karzer gesteckt, ein Loch im Keller, mit Wasser, Suppe und Brot verköstigt.
Dieser arme Bursche besaß auf seiner Flucht nicht das Weltbild, wie Frido eines besass. Durch den häufigen Wechsel der Pflegefamilien, in die er gegeben wurde, hatte er nicht nur Kenntnis vom Betrieb eines Bauernhofes. Umgang mit Kühen und Pferden. Selbst „Fahren mit der Eisenbahn“ war mir bekannt wie das ging. Auch hatte er schon gelernt, auf dem Fahrrad zu sitzen und damit herumzufahren.
Dem Kinderheim war in einem Nebengebäude ein landwirtschaftlicher Betrieb angegliedert. Eine Hühnerfarm, in der auch Kaninchen und Schweine gemästet wurden.
Fridowar bei bei den älteren Knaben zwar nicht beliebt, aber er wurde geachtet. Man rief ihn Suti. „Wo ist der Suti?“ schallte es oft wie ein Echo durch die Gänge.
Ein anderer, ein echter Tunichtgut in den Augen der Nonnen, hiess Sozi. Sein Bettnachbar war der Ruckstuhl. Der Anführer von allen, ein langes blondes Gestell, hiess Georgi. Das waren die Häupter der Kinderschar.
Man kann sich diese vier gut vorstellen, wenn man ihre Gesichter betrachtet.
Suti, der in der Schule Mühe hatte, Vergangenheit und Vor-Vergangenheit auseinander zu halten. Neben Sozi, ein Querulant, der wusste, wie ein Dietrich gemacht wird und klaute. Ein echt anti soziales Element.
Ruckstuhhl, nicht gesprächig. Eher schweigsam. Der mit dem Korb Bussarde fing. Georgi, zuständig für den Einachs-Trecker in der Hühnerfarm. Er musste Reifen flicken und den Tank des Treckers dauernd mit Treibstoff gefüllt halten.
Frido war geboren worden als Chidler ans Ruder kam. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis der zweite Weltkrieg über Europa hereinbrach.
Die Confoederatio helvetica, bekannt als CH, konnte sich die Zufuhr von Lebensmitteln durch den Betrieb eigener Schiffe sicherstellen.
Darum wurden Seeleute mit Schweizer Pass zusammengesucht, und Fridos Vater war einer von denen. Sein Sohn strolchte derweil in den Wäldern um Klingnau herum. So oft es ging, war er mit den anderen Kindern im Wald. Sie kletterten auf Bäume, unterhielten vor einer Höhle ständig ein Lagerfeuer damit keine der Nonnen sich über die Flammen hinweg traute und das Innere der Höhle nicht betreten konnten. Denn unter den Heiminsassen gab es welche, die so frech waren, im Dorf ohne zu bezahlen Ware mitnahmen und sie in der Höhle versteckten. Heute wird das "Shop lifting" genannt, Ladendiebstahl.
„Ins Dritte hinüber?“ wurde gefragt vom Zöllner. "Wo gesungen wird, die Schweiz, die Schweiz das Stachelschwein, das nehmen wir im Rückzug ein!“ Im Sommer schwammen sie hinüber auf diese Insel die Judenäule genannt wurde. Das war streng verboten. sie wussten, das war ein jüdischer Friedhof, lag aber bereits auf dem Hoheitsgebiet von Chidlers Drittem, ein unbewohntes Eiland im Rhein.
Sie schwammen nur heimlich hinüber, zu holen war dort nichts. Über ihren Köpfen spielten sich Luftkämpfe ab. Fürchterlich donnernde fliegende Festungen, Rauch hinter sich herziehend, versuchten in die Schweiz zu entkommen. Die Besatzung, offensichtlich in allerhöchster Lebensgefahr, wurde von der Schweizer Flugabwehr knallhart beschossen, selbst wenn sie aus dem letzten Loch pfiffen.
Eine Maschine wurde über ihren Köpfen getroffen, stürzte brennend in einen Wald. Ein Fallschirm öffnete sich in der Luft.
Sie machten sich augenblicklich auf den Weg. In die Richtung wo der Schirm wohl landen musste. Denn sie wussten, abgesprungene Flieger hatten jeweils Schokolade als Notvorrat bei sich. Klar sie waren scharf auf Schokolade.
Frido hatte die Idee, in der Hühnerfarm aus alten Schläuchen ein kleines
Floss zu bauen. Damit sollte der amerikanische Flieger während der Nacht über den Rhein schwimmen.
Der Flieger lachte und stellte sich vor als Jack. Er holte Schokolade Sie setzten sich ins Gras, verschlangen die Schokolade gierig wie Hunde. Denn wenn sie die Leibspeise ins Heim gebracht hätten, wäre jedem von ihnen lediglich ein kleines Stücklein Schokolade zuteil geworden. Weil die Nonnen Schokolade oder andere Süssigkeiten die einzelnen Kinder als Geschenk erhielten, nicht dem beschenkten Kind in die Hand drückten, sondern das Geschenk an alle Insassen zusammen verteilten.
Die Buben sagten: „Die Schokolade muss weggeputzt werden.“ Derweil sassen sie immer noch mit dem Flieger im Gras und hielten Rat was mit ihm zu tun sei.
„Frag ihn, ob er schwimmen kann,“ sagte Frido zu Sozi. Der begriff, ruderte mit den Armen in der Luft gleich einem Schwimmer, zeigte mit dem Finger auf den Flieger und malte ein Fragezeichen in die Luft.
Jack konnte schwimmen.
Frido war der Gedanke gekommen, in der Hühnerfarm ein Floss zu bauen. Mit alten Trecker Schläuchen, Haselruten und Schnüren wollte er das machen.
„Wir bringen ihn während der Nacht zum Judenäule,“ schlug Frido vor, denn ihm war gesagt worden, die Amerikaner stünden bereits in Altenburg, im Dorf jenseits des Rheins.
Hier endet die Geschichte. Sie brachten Jack zu später Stunde ans Wasser, er drückte jedem die Hand, sagte: „good luck“ und verschwand im Dunkeln.Schnell brachten sie die Leiter zurück, schlichen zurück in den Schlafsaal und schworen, niemandem davon zu erzählen.
„Wenn ich dereinst vor dem jüngsten Gericht stehe, wie es die Nonnen predigen“, sagte Frido, „dann werde ich einen schweren Stand haben.“ Nicht weil ich mich gegen das sechste Gebot versündigt hätte, du sollst keine Ehebrechen, sondern weil ich den Schwur brach, die Geschichte nicht weiterzuerzählen.
„Ich hoffe, das jüngste Gericht wird mir gnädig sein“ betete Frido fortan jeden Abend und schloss die Augen erst, wenn er das Wörtchen Amen gesagt hatte. Zwei Jahre später befanden sich Jette und Frido woanders. Diesmal in einem Kinderheim am Fusse der Churfirsten, aber immer noch unter Obhut,von derselben Sorte Klosterschwestern.
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